Urinstinkt vs. Menschlichkeit

Meine lieben Leser,

die zwei großen Lichter erscheinen im Dunkel des Tunnels. Augenblicklich beginnt es zu wimmeln und die Spannung steigt. Klar ist, es wird nicht genug für alle geben. Entlang der schmalen Kante, nur eine Fußspitze breit vom Abgrund entfernt, suchen sie hektisch nach der richtigen Position. Der perfekte Start ist alles. Endlich bremst das tonnenschwere Gefährt schwerfällig und eisern. Seine Türen öffnen sich ruckartig. Die Anstandssekunde vergeht nur zäh und dann beginnt er- der große Run auf die Plätze. Im Sekundentakt wird erobert, verdrängt, übergangen, gewonnen und verloren. So läuft das jeden Morgen.

Ich kann darüber nur noch den Kopf schütteln und gebe mich absichtlich ganz unbeeindruckt. Bewusst bleibe ich beim Einfahren der Bahn in den hinteren Reihen stehen. Es kommt nicht selten vor, dass Menschen von der Bahnsteigkante abrutschen, vom Luftzug mitgerissen oder in einer Stadt wie Berlin geschuppst werden. Von einer U- oder S-Bahn erlegt zu werden stelle ich mir nicht unter einem guten Start in den Tag vor. Schon bevor die Bahn steht wird um die vordere Reihe gekämpft, ungeachtet der Sicherheitsmarkierung oder des Mitmenschen.

Gehen die Türen dann endlich auf haben diejenigen, die aussteigen Glück, wenn sie nicht schon durch eine hineindrängende Masse am körperkontaktlosen Austreten gehindert werden. Es gibt immer einen, der sich sofort in die Bahn hineinschieben muss, um den ersten freien Platz zu ergattern. Mit einem zufriedenen Seufzer wird sich dann platziert und die Tageszeitung, wahlweise das Handy, rausgekramt, um elegant den genervten Blicken der Glücklosen zu entgehen.

Dieses Schauspiel ist ganz amüsant zu beobachten, manchmal aber auch derart abartig, dass ich mit 23 bald graue Haare habe. Es wird weder Rücksicht auf Alte und Kranke, noch auf Kinder und Schwangere genommen. Erst wenn Ruhe einkehrt und der ganze Zug denkt: „Der Mann, der dort steht ist mindestens einhundertunddrei Jahre alt, da muss doch mal jemand aufstehen“, wird es peinlich und irgendein guter Mensch erbarmt sich.

Der Urinstinkt, der Erste und Stärkere sein zu wollen, für sich die beste Lage herauszuschlagen, sitzt tief. Aber tief genug sich nicht absichtlich einmal zurückzunehmen und für Bedürftigere zu sorgen? Mir macht das Stehen im ruckelnden Zug, noch halb schlaftrunken auch keinen Spaß, aber ich bin jung und Studentin. Ich sitze den ganzen Tag. Genau wie die Büromenschen und diejenigen, die nur drei Stationen fahren, kann ich es aushalten eine Stunde am Tag nicht in Gemütlichkeit und Komfort zu baden.

Und ich stehe auch für ganze Kerle auf, nämlich für die mit dem Dreck unter den Nägeln und der zerschlissenen Arbeitskleidung. Totmüde vom Straßenteeren, vom in der Erde wühlen ist das das Mindeste, was wir für sie tun können.

Geben wir der Menschlichkeit öfter mal Vorrang, wenn nicht endlich Priorität!

Eure Cali

7 Kommentare zu “Urinstinkt vs. Menschlichkeit

  1. Toller Artikel! Das selbe fällt mir auch immer wieder auf! Wenn ich aus der U-Bahn aussteigen möchte, stehen sie schon alle vor den Türen und drängeln schon nach drinnen. Und dann kommt auch schon die Platzsuche. Die Strecken die ich oft fahren muss sind nicht lange und meistens stehe ich lieber. Ich bin froh, wenn ich mal nicht sitzen muss 😉
    Wieso müssen die Menschen immer stressen und drängeln. Die U-bahn wird lange genug stehen und ansonsten nimmt man die Nächste 🙂
    LG sweetminds

    • 😀 Dann ist es wohl keine Eigenheit der Berliner. Sich die Zeit zu nehmen auf eine leerere Bahn zu warten wäre ja schon fortgeschritten. Finde ich toll, dass du das Bewusstsein dafür hast! Viele Grüße zurück, Cali

  2. Boah … kann ich nur sagen. Mal wieder der Hammer. Und ich hab mal wieder nix hinzu zu fügen, weil Du meist alles sagst, was ich auch denke. 🙂 🙂 🙂

  3. Waoh, welch emotionaler und mitreissender Artikel. Du kannst wirklich unglaublich gut mit Worten umgehen! Ich muss zum Glück selten Bahn fahren, aber ich habe das auch schon erlebt, diese Drängelei und der Egoismus sind manchmal unerträglich. Genauso wie neulich, als jemand (in der Deutschen Bahn allerdings) mir gegenüber ein ekelhaft nach Zwiebelen und was auch immer noch stinkendes Sandwich ass… bah, nicht schön anzusehen und mein Magen machte auch die eine oder andere Umdrehung… Liebe Grüsse und stressfreies Ubahn-Fahren für Dich, Andrea

    • LIebe Andrea, tut mir Leid, dass ich dir jetzt erst auf deinen Kommentar antworte. Das, was du beschreibst, kenne ich auch (mag gar nicht dran denken) und noch schlimmer. Aber weißt du was ich dann immer übe, wenn es gar nicht mehr geht? „Nimm an, was ist!“ 🙂 Viele Grüße und danke, dass du hier warst, Cali

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